Die Lektüre der aristotelischen Poetik durch die Hermesgruppe in Wien [hermesgruppe.blogspot.com] hat vier Jahre gedauert (womit vielleicht ein Rekord in der Qualität der Langsamkeit erreicht worden ist). In »Poetik lesen 2« wird die Dokumentation dieser Lektüre fortgesetzt und abgeschlossen. Wir lassen uns auf Aristoteles so ein, dass wir ihn nicht in einen anerkennenswerten Naturwissenschaftler und einen obsoleten, weil allzu platonischen Philosophen zerspalten. Vielmehr lesen, d.h. sehen wir Aristoteles als einen durchgängig empirisch vorgehenden Untersucher, Beschreiber, Formulierer, der seinen modus operandi selber charakterisiert hat als »die Bemühung, hinsichtlich der sinnlich wahrnehmbaren Dinge Begriffsbestimmungen zu liefern« – und diese Bemühung als »Physik« bezeichnet (Met. 1037a 14). Sein Text ist ein sinnlich wahrnehmbares Ding, ein lesbares, nämlich ein Text-Ding, und Ähnliches gilt auch für die Gegenstände dieses seines Textes, nämlich die Dicht-Werke.
Wir haben bereits gesehen, dass Aristoteles aus der Thematik der von ihm untersuchten tragödischen und epischen Dichtungen (der vorgefundenen wie der herbeigewünschten) die darin laut common sense dominierenden »Substanzen« irgendwie vertreiben will: und zwar nicht nur die Götter sondern sogar die angeblich unvermeidlichen Menschen. Er ersetzt sie durch ihre »akzidenziellen« Taten, Leiden, Situationen, Momente, Umstände, Überraschungen, Zufälle – die sich allerdings zu jeweils notwendigen Abläufen zusammenschließen. So dass dann die richtig gemachte Tragödie oder epische Dichtung selber wie ein Prototyp von »Substanz« auftritt: wie ein Lebewesen, das den menschlichen Betrachter anspringt, erregt, vielleicht transformiert.
Das ist das »theoretische« Drama der Poetik: dass die Kategorie »Substanz« dort ausgetrieben wird, wo sie Heimatrecht beansprucht – um anderswo, auf einer anderen Ebene, wieder hereinzubrechen.
Die Fortsetzung von Poetik lesen? In der Metaphysik lesen!
Walter Seitter (*1941), Philosoph und Kunsthistoriker, lebt in Wien.