Die Poetik ist eine sehr kleine und relativ leicht lesbare, vielleicht die am meisten gelesene, auch diskutierte und verwendete Schrift aus dem Vorlesungsbetrieb des Aristoteles (384-322). Sie sticht auch durch ihre thematische Ausrichtung hervor: die Dichtung – ist sie nicht etwas Schönes? Dieser Sachverhalt mag hinreichen, um sie wieder und wieder zu lesen. Wieso aber das Lesen auch publizieren? Können wirklich neue Aspekte der Literaturtheorie gewonnen werden oder gar neue Erkenntnisse über die griechische Tragödie?
Das wohl eher nicht. Die Ebene des Textes, die hier dem lesenden Auge erschlossen werden kann, betrifft die Aussagen des Aristoteles, genauer gesagt die Prädikate, die er seinen Gegenständen, der Dichtung als Tätigkeit, den Dichtwerken namens Tragödie und Epos, zuspricht. Die Frage ist dabei weniger, ob seine philosophische Traktierung den antiken Kunsttätigkeiten gerecht wird. Sondern was sie selber in die Welt setzt: welche Begriffe sie anwendet und welche sie unterschlägt, welche Wörter sie zu Hauptbegriffen aufbaut oder gar welches theoretische Drama sie inszeniert.
Wie aber lässt sich aus so einem Text etwas herauslesen, was nicht schon längst und oftmals gesagt worden ist? Wohl nur, indem man sich das Lesen schwer macht, indem man den Text wortwörtlich und möglichst langsam noch einmal liest, indem man die Zeit des Lesens weit auseinanderzieht. Indessen will die Lektüre nicht eigentlich eine philologische, auch nicht eine philosophiegeschichtliche sein: sondern mit dem Auseinanderziehen der Zeit soll eine Zeit des Philosophierens gewonnen werden. Ein Miteinander-Philosophieren zwischen entfernten und nahen Philosophierenden.
Walter Seitter (*1941), Philosoph und Kunsthistoriker